Der Hirnforscher Christoph Krick an der Universität des Saarlandes hat untersucht, warum eine Musiktherapie bei Tinnitus so gut wirkt. Die von Heidelberger Forschern entwickelte Therapie hilft dabei, lästige Ohrgeräusche buchstäblich „wegzusummen“. 80 Prozent der Patienten empfanden nach dieser Behandlung den Tinnitus nicht mehr als quälend, bei acht Prozent verschwand er ganz. Über Aufnahmen im Magnetresonanz-Tomographen (MRT) konnte Krick nachweisen, dass sich schon nach fünf Tagen die Gehirnstrukturen verändern. Der Lernfortschritt während der Musiktherapie reorganisiert jenes Hirngewebe im Gehörkortex, das aufgrund der Tinnitus-Störung zunächst abgebaut wurde.
Das aktive Hörtraining verändert damit außerordentlich rasch die „Platine“ des Gehirns. Die Forschungsergebnisse hat Christoph Krick jetzt gemeinsam mit Heidelberger Wissenschaftlern in dem Online-Journal „Frontiers of Neuroscience“ veröffentlicht.
Die störenden Ohrgeräusche entstehen bei Tinnitus-Patienten, weil sie plötzlich bestimmte Frequenzen nicht mehr hören können. „Man kann sich das wie eine Klaviertastatur vorstellen, bei der eine Taste fehlt, denn das menschliche Gehör ist nach Frequenzen geordnet. Da das Gehirn den fehlenden Ton erwartet, aber nicht empfängt, versucht es diesen – analog zu einem Verstärker – lauter zu drehen. Die Folge kann eine Rückkopplung sein, die durch die Selbstanregung als Phantomgeräusch wahrgenommen wird“, erklärt der Biologe Christoph Krick, der am Neurozentrum der Saar-Universität in Homburg forscht. Seit Jahren besteht eine interdisziplinäre Forschungskooperation mit dem Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung (DZM) in Heidelberg. Bei der Neuro-Musiktherapie, die am DZM entwickelt wurde, versucht man, diese Fehlsteuerung des Gehirns rückgängig zu machen. „Auch das lässt sich über ein Klavier erklären: Wenn Sie dort einen Ton anschlagen, schwingen automatisch die Ober- und Untertöne mit, das sind Töne in anderen Oktaven. Die Tinnitus-Patienten können über das Nachsummen und Singen von Grundtönen zur meist höheren Tinnitus-Frequenz den fehlenden Ton im Gehirn rekonstruieren“, erläutert Krick. „Das Anstimmen der Untertöne des eigenen Phantomtons erscheint den Patienten anfangs eher schwierig, gelingt dann aber an jedem Therapietag besser.“
Zusätzlich werden in der Therapie verschiedene Entspannungstechniken vermittelt, da auch Tinnitus-bedingter Stress den Phantomton lauter werden lässt. Das therapeutische Verfahren wird ständig evaluiert und optimiert. In der aktuellen Studie kam eine intensive Kompaktversion der Therapie, die nur fünf Tage dauert, zur Anwendung. Die Heidelberger Forscher waren anfangs überrascht, dass die Patienten schon nach wenigen Tagen die Hörgeräusche als weniger störend empfanden. Dr. Heike Argstatter, die am DZM die Studie begleitet hat, kann mittlerweile schon über eine längere Erfahrung mit der therapeutischen Wirkung dieser kompakten Musiktherapie zurückblicken. „Erfreulich war, dass noch drei Jahre nach dem recht kurzen Therapieintervall der Therapieerfolg erhalten blieb. Zu Beginn der Studie war dennoch fraglich, ob dies womöglich auf einen Umbau im Gehirn unserer Patienten zurückzuführen sein könnte.“ Sie habe daher wissen wollen, was genau die Musiktherapie im Gehirn verändert.
Zu dieser Fragestellung stellte Christoph Krick verschiedene Hypothesen auf, welche Gehirnareale betroffen sein könnten, und überprüfte dies mit Hilfe des modernen Forschungs-MRTs am Neurozentrum in Homburg. Um sicherzustellen, dass tatsächlich die Musiktherapie und die dazu gehörigen Entspannungsübungen zum Erfolg führten, wurde auch eine Vergleichsgruppe von gesunden Menschen untersucht, die dasselbe Lernprogramm absolvierten wie die Tinnitus-Patienten. „Bisher war man davon ausgegangen, dass Lernfortschritte nur die Aktivitäten im Gehirn verändern, also quasi eine neue Software aufspielen. Wir konnten jedoch nachweisen, dass schon nach wenigen Tagen die Denkzellen, die den Höreindruck verarbeiten, nachgewachsen sind. Es wurde sozusagen die Festplatte des Gehirns umgebaut und zwar dauerhaft“, sagt Krick. In Fragebögen konnten die Tinnitus-Kranken auch angeben, wie stark sie von der Therapie profitiert haben. „Bei den Patienten, die den Therapiefortschritt als besonders erfolgreich wahrgenommen haben, waren auch die stärksten Veränderungen im Gehirn zu beobachten“, stellte der Hirnforscher fest. Auch bei den gesunden Vergleichspersonen konnten die Forscher neue Strukturen erkennen. Dort wuchs Gewebe in den Gehirnarealen nach, die für die Stressverarbeitung von Bedeutung sind und dem Menschen dabei helfen, sich zu entspannen.
Überraschend waren für die Forscher die Geschwindigkeit und das deutliche Ausmaß des Gehirn-Umbaus. „Der Lernvorgang hatte sich offensichtlich in das Gehirn ‚eingebrannt‘. Wir gehen davon aus, dass wir somit die Ursache des nachhaltigen Therapieerfolgs gefunden haben“, stellt Krick fest. Er glaubt, dass sich diese Erkenntnisse auch auf andere Lernerfolge übertragen lassen. Sie ermöglichten einen neuen Blick auf die Funktionsweise des lernenden Gehirns.